Texte / Prof. Dr. A. Riedl

 


Helmut Günter Weis
Von Materialhaftigkeit bis zu objektiver Körperhaftigkeit                        
Prof. Dr. Peter Anselm Riedl

Reiseeindrücke festzuhalten - das bedeutet, einem Zwang zur Selektion zu folgen. Was unter den Bedingungen der Ortsveränderung mit entsprechend geschärften Sinnen wahrgenommen wird, läßt sich nicht als kontinuierlicher Vorgang, sondern nur als Kette denkwürdiger und emotional fruchtbarer Situationen im Gedächtnis abspeichern und aus dem Gedächtnis abrufen. Darüber, ob das individuell Erinnerte intersubjektiv bedeutsam werden kann, entscheidet in einer Kunst, die nicht mehr dem traditionellen Nachahmungsprinzip unterworfen ist, die Fähigkeit zur Ausfilterung von charakteristischen formalen und chromatischen Wirkstrukturen.

Für den Weinheimer Maler Helmut Günter Weis wurde eine Rußlandreise zu einem bildnerisch folgenreichen Erlebnis. Es war die vereinte Neugier des Künstlers und des Pferdekenners, die Weis im Spätsommer 1998 in den nördlichen Kaukasus führte. Die großgestimmte Landschaft, die Anlagen der früheren Staatsgestüte in Stavropol, die Pferde der dort gezüchteten, zum Teil seltenen Rassen und nicht zuletzt die gastfreundlichen und offenen Menschen ließen Bilder der Phantasie entstehen, in denen Wirklichkeit in doppeltem Sinne aufgehoben - nämlich bewahrt und in ihrer Direktheit außer Kraft gesetzt - ist. Ein Kapitel aus der Frühgeschichte der abstrakten Malerei kommt einem in den Sinn, in dem eine exotisch anmutende Allianz von Landschaft, Pferden und Reitern eine wichtige Rolle spielt: Es war Wassily Kandinsky, der in einer Reihe von Impressionen, Improvisationen und schließlich in seiner "Komposition IV" von 1911 Naturraum, Menschen und Tiere immer mehr der Wiedererkennbarkeit entrückte und in Elemente von Farb-Form-Erfindungen verwandelte, die freilich Erinnerungen an ihre Gestaltanlässe in sich tragen. Jede Art der Abstraktion, die sich nicht ganz vom Assoziativen lossagt (wie etwa die Konkrete Kunst), steht letztlich in der Pflicht dieser in den Jahren vor dem Ersten Welt­krieg von Kandinsky in Theorie und Pra­xis begründeten Überlieferung.

Weis, der sich hauptsächlich dem Informel und da vor allem Emil Schumacher verbunden sieht, will seinen - zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen noch unvollendeten - Bilderzyklus „Die Reise nach Stavropol" als eine freie Niederschrift äußerer und innerer Erfahrungen verstanden wissen. Der Künstler, der sich nach autodidaktischen Anfängen mit den Jahren ein bemerkenswertes Spektrum der Ausdrucksmittel erschlossen hat, scheut weder das große Format noch die resolute Geste und den, zuweilen massiven, Einsatz unterschiedlicher Materialien. Aber er schätzt ebensosehr den durchdachten Aufbau und den verhaltenen Farbklang.

Wenn ein breit disponiertes Bild, das von geometrisierenden Braunflächen beherrscht wird, die Sta-vropol-Serie einleitet, spricht daraus eine auch für etliche andere Arbeiten der Folge verbindliche Haltung. Mit der Gelassenheit der Großform konkurriert aller­dings eine Erregung, die sich auf mehrfache Weise äußert: als Aufbrechung der Flächigkeit durch Schichtungen und dynamische Pinselspuren, als zeichenhafte Einsprengsel und als Einlagerungen von Stoffen wie Wellpappe oder Stricke. Das Kolorit ist nach Aussage des Künst­lers von den Farben der kaukasischen Landschaft und von der Fellfarbe der Achal-Tekkiner-Pferde abgeleitet, die Stricke spielen auf die Haltevorrichtungen der Tiere an. Als isoliert lesbare Erzählinformationen werden solche Verweise gleichwohl nicht empfunden, und auch das flüchtig auf der collagierten Pappe notierte Wort Stavropol bleibt selbstverständlicher Teil des Bildzusammenhangs.

Die Materialhaltigkeit kann sich in anderen Bildern bis zu objekthafter Körperhaftigkeit steigern. Auf dem achten Bild der Serie sind beispielsweise neben Putz und Wellpappe Aluminiumplatten auf die Leinwand appliziert, auf dem kraft­voll strukturierten zehnten unter anderem Holz und Stricke. Wiederum stellt Weis kommentierend Wirklichkeitsbezüge her - zum metallischen Schimmer der Pferdefelle in einem Fall und zu Relikten archaiischer Kulturen am anderen -, ohne damit eine Ausdrücklichkeit zu mienen, die den Formen und Farben eine Stütze bieten müßte. Ob in Bildern wie den hier gezeigten oder in anderen, die stärker auf kompositionelle Dynamik und koloristische Intensität setzen: Weis bewährt sich als Gestalter, der dem Anschaulichen und Gefühlsunmittelbaren einen entscheidenden Vorsprung vor dem Literarischen und Kalkulierten zu sichern versteht.

englischer Text



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